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#Covid-19 aus der Sicht der Traumaforschung

Prof. Reinhard Tschiesner lehrt Entwicklungspsychologie an der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, was diese ungewisse Zeit mit uns macht.

Prof. Tschiesner, Sie haben sich lange mit Traumaforschung beschäftigt. Kann die derzeitige Ausnahmesituation mit einem traumatischen Erlebnis verglichen werden?
Das kann man nicht generell beantworten. Viele Menschen konnten trotz dieser außergewöhnlichen Lebensumstände wieder eine Art Normalität herstellen, haben sich an die Situation angepasst und zu einem emotionalen Gleichgewicht zurückgefunden - einige vermutlich aber nicht. Wenn letzteres der Fall ist, dann können sich hier durchaus Parallelen zum Trauma-Konzept finden.  Kurz gesagt, zeigt sich ein psychisches Trauma immer durch den Verlust des psychischen Gleichgewichts aufgrund eines externen Ereignisses, das als besonders belastend erlebt wird.

Wie werden diese ausgelöst?
Traumatische Erlebnisse könnten zum Beispiel ausgelöst werden, wenn man selbst direkt mit der Krankheit und deren Konsequenzen konfrontiert wird oder Zeuge davon wird,  z.B. durch den Tod eines Angehörigen , durch die eigene  Infektion oder  wenn man selbst oder ein geliebter Mensch betroffen ist und die Krankheit als lebensbedrohlich empfunden wird. Auch Personen, die nun mit erkrankten oder trauernden Menschen arbeiten müssen und im Extremfall über deren Schicksal entscheiden müssen, haben ein erhöhtes Risiko, an Belastungsstörungen zu erkranken. Der Traumabegriff ist zwar nicht immer passend, aber es werden viele Menschen einen Kontrollverlust erleben und die daraus resultierende Hilflosigkeit und Ohnmacht verspüren, die sich in verschiedensten Formen zeigen kann.


Wie zeigen sich Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Ohnmacht und was machen diese psychologisch mit uns?
Der Kontrollverlust entsteht vor allem durch den Verlust externer Strukturen. Die meisten wissen z.B. wie wichtig es ist, bei Kindern Routinen so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. Abweichungen führen zu Verunsicherung. Aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung von Neuinfektionen ist der Verlust der Routinen für alle in irgendeiner Form spürbar. Das psychisch schwierige dabei ist, dass man dadurch z.B. sein „Zeitgefühl“ verliert. Plötzlich unterscheidet sich der Sonntag nicht mehr vom Montag. Normalerweise wäre man an einem Sonntag vielleicht spazieren gegangen oder hätte etwas mit anderen Menschen unternommen und am Montag wäre man zur Arbeit gegangen. Viele Menschen haben den Eindruck, dass sich nun alles gleich anfühlt und wissen nicht mehr, wann etwas beginnt und wann etwas aufhört. 


Hat dieser Kontrollverlust demnach für viele große Auswirkungen?
Ja, das ist auch beim Trauma der Fall. Auch dort dominiert dieser Zustand des Außer-Kraft-gesetzt-worden-zu-sein und man glaubt den Schmerz nie wieder loswerden zu können – es ist einfach kein Ende in Sicht. Menschen, die im Moment kein Geld verdienen können, spüren dieses Gefühl der Unendlichkeit wahrscheinlich deutlich und ihre existentielle Angst nimmt durch die Dauer dieser Ungewissheit sicher nicht ab. Als weitere psychische Konsequenz dieses Kontrollverlusts kann sich ein Gefühl der eigenen Handlungsunfähigkeit entwickeln.  Durch den Verlust seiner Strukturen kann man nun nicht mehr das tun oder das bewirken, was man üblicherweise tut z.B. bei der Arbeit. D.h. man kann in der Ausnahmesituation nichts dazu beitragen, um etwas zu ändern oder die Umwelt irgendwie zu beeinflussen. Auch das ist etwas Typisches für ein Trauma. Ein Trauma zeigt Personen eben auf, dass sie im Moment ohnmächtig sind und gar nichts tun können, um irgendetwas zu ändern. Da stellt sich dann natürlich die Sinnfrage. Welchen Nutzen habe ich bzw. meine Person? Die eigene Identität wird damit ein Stück weit auch in Frage gestellt.


Was kann den Studierenden helfen, sich nicht völlig in dieser Zeit der sozialen Isolation zu verlieren?

Diesbezüglich gibt es eine große Varianz. Es gibt Personen, die mit sozialer Isolation gut umgehen können und andere, die ohne die physische Nähe anderer aus ihrem emotionalen Gleichgewicht geraten. Den Studierenden hilft ein Stück weit sicher, dass die Universität alles tut, damit sie ihr Studium mehr oder weniger regulär fortführen können, was vielleicht dazu beitragen kann, ihr Gefühl der Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten und insgesamt die Situation etwas zu entschärfen.

Können die Studierenden auch selbst aktiv werden?
Die Studierenden sollten im Home-Studium auch selbst versuchen, ihre sozialen Kontakte weiterhin zu pflegen, indem sie sich z.B. mit anderen Studierenden zum virtuellen Kaffee verabreden und sich über den neuen Studien-Alltag austauschen. Man fühlt sich dann weniger alleine und kann an gewohnten Strukturen einigermaßen festhalten, wenn man den Tag so plant, als ob man zur Uni ginge.

Ist es möglich, dass Menschen diese Zeit auch als eine Art Erleichterung sehen (Stichwort Mobbingopfer)?
Die Reaktionen auf die Maßnahmen sind sehr subjektiv. Jeder erlebt die aktuelle Situation auf seine Weise. Es ist also durchaus denkbar, dass Menschen der Situation etwas Positives abgewinnen können, im Moment das Haus nicht verlassen zu dürfen. Jemand der am Arbeitsplatz oder in der Schule eine Art von Gewalt erleben muss oder gemobbt wird und nun nicht seinen Aggressoren ausgesetzt ist, kann froh sein zumindest physisch nicht mehr seinen Aggressoren ausgesetzt sein zu müssen und die Situation als erleichternd erleben. Aber auch Personen, die ihre berufliche Tätigkeit als eine Qual erleben, die ihnen die letzten Kräfte raubt, können jetzt mal durchatmen. 


Was raten Sie allen, die Struktur benötigen und derzeit allein auf sich gestellt sind?
Gerade in dieser Situation, in der für viele von uns externe Strukturen verloren gegangen sind, ist es wichtig diese durch selbst auferlegte Strukturen zu ersetzen. Damit gemeint sein kann, dass man den Tagesablauf genau plant und Tätigkeiten einen genauen zeitlichen Rahmen gibt. Das kann mit dem Wecker-Einstellen beginnen, danach Frühstück, dann 45 Minuten Bewegung, dann 60 Minuten für das Bearbeiten der Emails usw. Neben Home-Office-Tätigkeiten sollten bewusst auch Pausenzeiten eingeplant werden.  Wenn die Arbeit von zuhause aus nicht möglich ist, könnten andere Tätigkeiten zu Hause gezielt in Angriff genommen werden, für die im normalen Alltag keine Zeit bleibt.

Soll man sich bereits auf die Zeit danach vorbereiten?
Ja, es ist durchaus sinnvoll, bereits jetzt die Zeit nach den Corona-Maßnahmen zu planen oder Dinge vorzubereiten, die auf einen zukommen werden, wenn die Quarantäne endet. Zudem sollte man nicht vergessen, sein soziales Netz zu aktivieren, andere anzurufen und nachzufragen, wie es geht oder sie fragen, ob sie Hilfe benötigen. Im Gespräch kann anderen seine eigene Befindlichkeit mitgeteilt werden und Tipps oder Erfahrungen im Umgang mit dieser Situation ausgetauscht werden. Das wird oft als Erleichterung erlebt. Die sozialen Medien und digitalen Kommunikationskanäle spielen hier sicher eine bedeutsame Rolle.

 
Und wenn man das Gefühl hat, es nicht alleine zu schaffen?
Wenn man den Alltag nicht allein geregelt kriegt, ist es auch wichtig, sich aktiv Hilfe von anderen einzufordern. Wenn man zum Beispiel als Risikoperson nicht mehr zum Einkaufen gehen sollten, sollte man andere um Hilfe bitten. Diese Handlung hilft dann nicht nur der Person, der dadurch geholfen wird, sondern auch der helfenden Person, da diese sich seiner Rolle für die Gesellschaft und Nützlichkeit in einer Zeit des Stillstandes bewusstwerden kann.

(vic)